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Das vierte Kapitel - Gelegenheitskäufe
An den folgenden Tagen ließ sich Geheimrat Tobler wiederholt im Auto nach dem Norden und Osten Berlins fahren. Er besorgte seine Expeditionsausrüstung. Die Schlipse, es waren Stücke von prähistorischem Aussehen, erstand er in Tempelhof. Die Hemden kaufte er in der Landsberger Allee. Drei impertinent gestreifte Flanellhemden waren es. Dazu zwei vergilbte Makohemden, etliche steife Vorhemdchen, zwei Paar Röllchen und ein Paar vernickelter Manschettenknöpfe, deren jeder ein vierblättriges Kleeblatt vorstellte. In der Neuen Königstraße kaufte er — besonders billig, wegen Aufgabe des Geschäfts — eine Partie Wollsocken. Und in der Münzstraße derbe rindslederne Stiefel. Am Tag der Abreise erwarb er endlich den Anzug! Das ging hinter dem Schlesischen Bahnhof vor sich. In der Fruchtstraße. Der Laden lag im Keller. Man mußte sechs Stufen hinunterklettern. Der Trödler, ein bärtiger Greis, breitete einige seiner Schätze auf dem Ladentisch aus. »So gut wie nicht getragen«, sagte er unsicher. Tobler erblickte zunächst einen verwitterten Cutaway aus Marengo und hatte nicht übel Lust, ihn zu nehmen. Andrerseits war ein Cutaway doch wohl nicht das geeignetste Kostüm für dreißig Zentimeter Neuschnee. Daneben lag ein hellbrauner Jackettanzug. Mit kleinen Karos und großen Fettflecken. Und neben diesem der Anzug, den Tobler schließlich wählte. Die Farbe war vor Jahren violett gewesen. Mit hellen Längsstreifen. Die Zeit vergeht. »Scheußlich schön«, sagte Tobler. »Was kostet das Gewand?« »Achtzehn Mark«, entgegnete der Alte. »Es ist der äußerste Preis.« Der Geheimrat nahm das Jackett vom Bügel und zog es an. Der Rücken spannte. Die Ärmel waren viel zu kurz. »Nehmen Sie den Cutaway!« riet der alte Mann. »Er kostet zweiundzwanzig Mark, aber die vier Mark Unterschied lohnen sich. Der Stoff ist besser. Sie werden es nicht bereuen.« »Haben Sie keinen Spiegel?« fragte Tobler. »Im Hinterzimmer«, sagte der Greis. Sie gingen in das Hinterzimmer. Es roch nach Kohl. Der Geheimrat starrte in den Spiegel, erkannte sich dann doch und mußte lachen. »Gefalle ich Ihnen?« fragte er. Der Ladenbesitzer griff, einen Halt suchend, in seinen Bart. »Nehmen Sie den Cutaway!« Tobler blieb standhaft. »Ich nehme das violette Modell«, antwortete er. »Es soll eine Überraschung sein.« »Insofern haben Sie recht«, meinte der Alte. Tobler zog sich wieder an und zahlte. Der Trödler wickelte den Anzug in braunes Packpapier und brachte den Kunden zur Tür. Bevor er öffnete, befühlte er Toblers Gehpelz, pustete fachmännisch in den Otterkragen und sagte: »Wollen Sie den Mantel verkaufen? Ich würde ihn vielleicht nehmen. Für hundertzwanzig Mark.« Der Geheimrat schüttelte den Kopf. »Der Cutaway war Ihnen zu teuer«, fuhr der alte Mann fort. »Sie haben kein Geld. Das kommt bei reichen Leuten öfter vor, als arme Leute denken. Na schön. Hundertfünfzig Mark. Bar in die Hand! Überlegen Sie sich's!« »Es ist ein Andenken«, sagte Tobler freundlich und ging. Der Trödler blickte ihm nach und sah den schweren Wagen und den Chauffeur, der beflissen den Schlag öffnete. Das Auto fuhr ab. Der alte Mann legte ein Brikett nach und trat vor ein Vogelbauer, das hinterm Ladentisch an der Wand hing. »Verstehst du das?« fragte er den kleinen gelben Kanarienvogel. »Ich auch nicht.« In Toblers Arbeitszimmer sah es beängstigend aus. Neben den Neuanschaffungen lagen Gegenstände, die der Geheimrat auf dem Oberboden in staubigen Truhen und knarrenden Schränken entdeckt hatte. Ein Paar verrostete Schlittschuhe. Ein warmer Sweater, der aussah, als habe er die Staupe. Eine handgestrickte knallrote Pudelmütze. Ein altmodischer Flauschmantel, graukariert und mindestens aus der Zeit der Kreuzzüge. Eine braune Reisemütze. Ein Paar schwarzsamtene Ohrenklappen mit einem verschiebbaren Metallbügel. Ein Spankorb, der längst ausgedient hatte. Und ein Paar wollene Pulswärmer, die man seinerzeit dem Leutnant der Reserve in den Schützengraben geschickt hatte. Tobler konnte sich kaum von dem Anblick losreißen. Schließlich ging er ins grüne Eckzimmer hinüber, in dem Johann verdrossen die Anzüge probierte, die ihm vor vier Tagen der beste Zuschneider Berlins angemessen hatte. Die letzten kleinen Schönheitsfehler waren beseitigt worden, und der Geschäftsführer der weltbekannten Firma, der sich persönlich in die Grunewaldvilla bemüht hatte, ließ es an begeisterten Zwischenrufen nicht fehlen. Johann stand wie ein unschuldig Angeklagter vor dem Pfeilerspiegel. Er ließ sich nacheinander die Jacketts, den Smoking, die Skijoppe und den Frack anziehen, als seien es lauter Zwangsjacken. Als der biedere grauhaarige Diener zum Schluß im Frack dastand, breitschultrig und schmalhüftig, riß es den Millionär hin. »Johann«, rief er, »Sie gleichen einem Botschafter! Ich glaube nicht, daß ich mich je wieder trauen werde, mir von Ihnen die Schuhe putzen zu lassen.« Der Diener wandte sich um. »Es ist eine Sünde, Herr Geheimrat. Sie werfen das Geld zum Fenster hinaus. Ich bin verzweifelt.« Der Schneider meinte, das sei ihm, wenn man ihm die Bemerkung gestatten wolle, noch nicht vorgekommen. »Sie reden, wie Sie es verstehen«, sagte der Diener. Das konnte der Herr nicht abstreiten, und dann empfahl er sich. Als er draußen war, fragte Johann den Geheimrat: »Gibt es in Bruckbeuren eigentlich Kostümfeste?« »Selbstverständlich. In solchen Wintersporthotels ist dauernd etwas los.« Johann zog den Frack aus. »Wollen Sie sich denn kostümieren?« fragte Tobler erstaunt. »Als was denn?« Johann zog die Livreejacke an und sagte sehnsüchtig: »Als Diener!« Nach dem Abendessen bat der Geheimrat die anderen, ihm zu folgen. Seine Tochter, Frau Kunkel und Johann begleiteten ihn zögernd. Er öffnete die Tür des Arbeitszimmers und schaltete das Licht ein. Anschließend herrschte minutenlanges Schweigen. Die Schreibtischuhr tickte. Die Kunkel wagte sich als erste ins Zimmer. Langsam näherte sie sich dem violett gewesenen Anzug aus der Fruchtstraße. Sie befühlte ihn so vorsichtig, als fürchte sie, er könne beißen. Sie schauderte und wandte sich den gestreiften Flanellhemden zu. Von einem der Stühle hob sie die steifen Manschetten und blickte entgeistert auf die vier blättrigen Manschettenknöpfe. Die gestärkten Vorhemden gaben ihr den Rest. Sie fiel ächzend in einen Klubsessel, setzte sich wuchtig auf die dort liegenden Schlittschuhe, fuhr gehetzt in die Höhe, blickte verwirrt um sich und sagte: »Das überlebe ich nicht!« »Halten Sie das, wie Sie wollen!« meinte Tobler. »Aber vorher packen Sie, bitte, sämtliche Sachen in den Spankorb!« Sie warf die Arme empor. »Niemals, niemals!« Er ging zur Tür. »Dann werde ich eines der Dienstmädchen rufen.« Frau Kunkel gab sich geschlagen. Sie zerrte den Korb auf den Tisch und packte. »Die Pudelmütze auch?« Der Geheimrat nickte roh. Mehrmals schloß sie sekundenlang die Augen, um nicht zusehen zu müssen, was sie tat. Hilde sagte: »Übermorgen bist du wieder daheim, lieber Vater.« »Wieso?« »Sie werden dich hochkantig hinauswerfen.« »Ich bin froh, daß ich mitfahre«, sagte Johann. »Vielleicht sollten wir uns Revolver besorgen. Wir könnten uns dann besser verteidigen.« »Macht euch nicht lächerlich«, meinte Tobler. »Den Preis, den ich gewann, konnte ebensogut einer gewinnen, der zeitlebens so angezogen ist, wie ich mich zehn Tage lang anziehen werde! Was wäre dann?« »Den würfen sie auch hinaus«, sagte der Diener. »Aber der würde sich nicht darüber wundern.« »Nun habt ihr mich erst richtig neugierig gemacht«, erklärte der Geheimrat abschließend. »Wir werden ja sehen, wer recht behält.« Es klopfte. Isolde, das neue Dienstmädchen, trat ein. »Herr Generaldirektor Tiedemann wartet unten im Salon.« »Ich komme gleich«, sagte Tobler. »Er will Vortrag halten. Als ob ich eine Weltreise machte.« Isolde ging. »Wo du doch übermorgen wieder zu Hause bist!« meinte Hilde. Der Vater blieb an der Tür stehen. »Wißt ihr, was ich tue, wenn man mich hinauswirft?« Sie blickten ihn gespannt an. »Dann kaufe ich das Hotel und schmeiße die andern hinaus!« Als auch Johann gegangen war, meldete Hilde hastig ein dringendes Gespräch mit Bruckbeuren an. »Es bleibt kein andrer Ausweg«, sagte sie zur Kunkel. »Sonst geht morgen abend die Welt unter.« »Ihr Herr Vater ist leider übergeschnappt«, meinte die Hausdame. »Womöglich schon seit langem, und es ist uns nur nicht aufgefallen. Diese Schlipse! Hoffentlich geht es wieder vorüber.« Hilde zuckte die Achseln. »Sobald das Gespräch da ist, lassen Sie keinen Menschen ins Zimmer! Außer über Ihre Leiche.« »Auch dann nicht!« versicherte Frau Kunkel tapfer und stopfte den alten, widerwärtigen Flauschmantel in den Korb. Der Raum nahm langsam wieder sein übliches, vornehmes Aussehen an. »Man ist ja allerlei von ihm gewöhnt«, sagte die Hausdame. »Wissen Sie noch, wie er vor zwei Jahren, in der Oper, wie hieß sie doch gleich, dem Dirigenten den Taktstock wegnahm? Der Geheimrat saß genau hinter dem Kapellmeister, der so schön dirigierte. Und oben auf der Bühne lag ein krankes Fräulein im Bett, und der Freund brachte einen Muff, weil sie an den Händen fror — und fort war das Stöckchen! Der Dirigent drehte sich erschrocken um, und die Zuschauer lachten furchtbar. Dabei war es gar kein Lustspiel! Und das alles wegen einer Wette!« Hilde blickte ungeduldig aufs Telefon. »Hoffentlich hält ihn der Generaldirektor lange genug fest.« »Telefonieren Sie doch erst, wenn der Herr Geheimrat abgereist ist!« »Jetzt oder nie«, sagte Hilde. »Im Grunde geht es mich überhaupt nichts an. Mein Vater ist alt genug. Ich mache mir Vorwürfe.« Die Kunkel schnallte die Korbriemen fest. »Ein kleines Kind ist er! Ich weiß nicht, woran es liegt. Im Grunde ist er doch ein gescheiter Mensch. Nicht? Und so nett und nobel. Aber plötzlich kriegt er den Rappel. Vielleicht liest er zu viel. Das soll sehr schädlich sein. Nun haben wir die Bescherung. Nun fährt er als armer Mann in die Alpen.« Das Telefon klingelte. Hilde eilte an den Schreibtisch. Es war Bruckbeuren. Die Hotelzentrale meldete sich. Hilde verlangte den Direktor. Es dauerte einige Zeit. Dann sagte Hilde: »Sie sind der Direktor des Grandhotels? Sehr angenehm. Hören Sie, bitte, zu! Morgen abend trifft ein Preisträger des Putzblank-Ausschreibens bei Ihnen ein.« Der Direktor erklärte, er sei orientiert, und es werde ihm ein Vergnügen sein. »Die Vorfreude ist die schönste Freude«, sagte sie. »Dieser Gast wird Ihnen leider Kopfschmerzen verursachen. Er tritt als armer Mann auf, obwohl er Millionär ist. Ein Multimillionär sogar.« Der Hoteldirektor dankte tausendmal für den Hinweis. Dann erkundigte er sich, weswegen ein Multimillionär als armer Mann auftrete. »Es ist eine Marotte von ihm«, sagte Hilde. »Er will die Menschen studieren. Er will ihre Moral auf Herz und Nieren prüfen. Ich stehe ihm sehr nahe, und mir liegt daran, daß man ihm nicht weh tut. Er ist ein Kind, verstehen Sie? Er darf auf keinen Fall erfahren, daß Sie Bescheid wissen. Er muß sich davon überzeugen, daß man ihn für einen armen Teufel hält und trotzdem behandelt, wie er's gewöhnt ist.« Der Direktor sagte, das werde sich schon machen lassen. Er fragte dann noch, ob der geheimnisvolle Gast Gepflogenheiten habe, die man auf dezente Weise berücksichtigen könne. »Eine gute Idee«, meinte sie. »Also passen Sie auf! Er läßt sich jeden zweiten Tag massieren. Er sammelt Briefmarken. Abends muß ein warmer Ziegelstein in seinem Bett liegen. Am liebsten ißt er Nudeln mit Rindfleisch oder andere Hausmannskost. Mit Getränken ist er wählerischer. Französischen Kognak liebt er besonders. Was noch?« »Katzen!« sagte Frau Kunkel, welche die Tür fanatisch bewachte. »Haben Sie siamesische Katzen?« fragte Hilde. »Nein? Besorgen Sie ihm einige! Für sein Zimmer. Ich überweise Ihnen morgen tausend Mark.« Der Hoteldirektor meinte, er habe alles notiert. Bezahlung komme natürlich nicht in Frage. Sie seien ein großzügiges Hotel. Bis auf die siamesischen Katzen sei außerdem das Programm kinderleicht zu verwirklichen. Doch auch die siamesischen Katzen ...« »Der Herr Geheimrat kommt«, flüsterte Frau Kunkel aufgeregt. »Guten Tag«, sagte Hilde und legte den Hörer auf. Brandes fuhr sie zum Anhalter Bahnhof. Hilde und die Kunkel kamen mit. Tobler liebte es, wenn seinetwegen Taschentücher geschwenkt wurden. »Lieber Johann«, meinte er im Auto, »vergessen Sie nicht, was ich angeordnet habe. Wir wohnen in München ein paar Stunden im >Regina<. Morgen mittag verwandle ich mich in Herrn Schulze. Sie besorgen einen Karton und bringen den Anzug, den ich jetzt anhabe, die Wäsche, Strümpfe und Schuhe zur Post. Ich verlasse das Münchner Hotel im Gehpelz. Wir nehmen ein Taxi. Im Taxi ziehe ich Schulzes Flauschmantel an. Und Sie übernehmen Toblers Pelz. Als den Ihrigen. Vom Starnberger Bahnhof ab kennen wir uns nicht mehr.« »Darf ich wenigstens Ihren Spankorb zum Zug tragen?« fragte Johann. »Das kann ich selber«, sagte Tobler. »Im übrigen werden wir ab München in getrennten Kupees reisen.« »Die reinste Kriminalgeschichte«, erklärte Hilde. Nach einer Weile fragte Frau Kunkel: »Wie werden Sie das nur aushallen, Herr Geheimrat? Ohne Massage. Ohne Kognak. Ohne den warmen Ziegelstein. Ohne bürgerliche Küche. Und ohne Ihre Katzen im Schlafzimmer!« Sie zwickte Hilde schelmisch in den Arm. Tobler erklärte: »Hören Sie bloß damit auf! Mir hängen die alten, lieben Gewohnheiten längst zum Hals heraus. Ich bin heilfroh, daß ich denen endlich einmal entwischen kann.« »So, so«, sagte Frau Kunkel und machte eines ihrer dümmsten Gesichter. Sie kamen ziemlich spät auf den Bahnsteig. Es war gerade noch Zeit, einige überflüssige Ermahnungen anzubringen. Und Johann mußte, bevor er einstieg, Hilde hoch und heilig versprechen, mindestens jeden zweiten Tag einen ausführlichen Bericht zu schicken. Er versprach's und kletterte in den Wagen. Dann fuhr der Zug an. Hilde und Frau Kunkel zückten ihre Taschentücher und winkten. Der Geheimrat nickte vergnügt. Schon glitten die nächsten Waggons an den Zurückbleibenden vorüber. Und eine kleine, alte Frau, die neben dem Zug hertrippelte, stieß mit Hilde zusammen. »Willst du dich wohl vorsehen!« rief ein junger Mann, der sich aus einem der Fenster beugte. »Komm du nur wieder nach Hause, mein Junge!« antwortete die alte Frau und drohte mit dem Schirm. »Auf Wiedersehen!« rief er noch. Hilde und er sahen einander flüchtig ins Gesicht. Dann rollte der letzte Wagen vorbei. Der D-Zug Berlin-München begab sich, stampfend und schimpfend, auf die nächtliche Reise. Es schneite wieder. Man konnte es vom Bahnsteig aus ganz deutlich sehen.
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