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Das sechste Kapitel - Zwei Mißverständnisse
Der Münchner Abendschnellzug hielt in Bruckbeuren. Zirka dreißig Personen stiegen aus und versanken, völlig überrascht, bis an die Knie in Neuschnee. Sie lachten. Aus dem Gepäckwagen wurden Schrankkoffer gekippt. Der Zug fuhr weiter. Dienstleute, Hotelchauffeure und Hausburschen übernahmen das Gepäck und schleppten es auf den Bahnhofsplatz hinaus. Die Ankömmlinge stapften hinterher und kletterten vergnügt in die wartenden Autobusse und Pferdeschlitten. Herr Johann Kesselhuth aus Berlin blickte besorgt zu einem ärmlich gekleideten älteren Mann hinüber, der einsam im tiefen Schnee stand und einen lädierten Spankorb trug. »Wollen Sie ins Grandhotel?« fragte ein Chauffeur. Zögernd stieg Herr Kesselhuth in den Autobus. Hupen und Peitschen erklangen. Dann lag der Bahnhofsplatz wieder leer. Nur der arme Mann stand auf dem alten Fleck. Er blickte zum Himmel hinauf, lächelte kindlich den glitzernden Sternen zu, holte tief Atem, hob den Spankorb auf die linke Schulter und marschierte die Dorfstraße entlang. Es gab weder Fußsteig noch Fahrweg, es gab nichts als Schnee. Zunächst versuchte der arme Mann in den breiten glatten Reifenspuren der Autobusse zu laufen. Doch er rutschte aus. Dann steckte er den rechten Fuß in eine Schneewehe — vorsichtig, als steige er in ein womöglich zu heißes Bad — und stiefelte nun, zum Äußersten entschlossen, vorwärts. Hierbei pfiff er. Die Straßenlaternen trugen hohe weiße Schneemützen. Die Gartenzäune waren zugeweht. Auf den verschneiten Dächern der niedrigen Gebirgshäuser lagen große Steine. Herr Schulze glaubte die Berge zu spüren, die ringsum unsichtbar in der Dunkelheit lagen. Er pfiff übrigens ‚Der Mai ist gekommen’. Der Autobus bremste und stand still. Etliche Hausdiener bugsierten die Koffer vom Verdeck. Ein Liftboy öffnete einen Türflügel und salutierte. Die späten Gäste betraten das Hotel. Onkel Polter und der Direktor verbeugten sich und sagten: »Herzlich willkommen!« Die Halle war von Neugierigen erfüllt. Sie warteten auf das Abendessen und auf den Sonderling und boten einen festlichen Anblick. Ein sächsisches Ehepaar, Chemnitzer Wirkwaren, und eine rassige Dame aus Polen wurden, da sie ihre Zimmer vorausbestellt hatten, sofort vom Empfangschef zum Fahrstuhl geleitet. Herr Johann Kesselhuth und ein junger Mann mit einem schäbigen Koffer und einem traurigen Herbstmäntelchen blieben übrig. Kesselhuth wollte dem jungen Mann den Vortritt lassen. »Unter gar keinen Umständen«, sagte der junge Mann. »Ich habe Zeit.« Herr Kesselhuth dankte und wandte sich dann an den Portier. »Ich möchte ein schönes sonniges Zimmer haben. Mit Bad und Balkon.« Der Direktor meinte, die Auswahl sei nicht mehr allzu groß. Onkel Polter studierte den Hotelplan und glich einem leberkranken Strategen. »Der Preis spielt keine Rolle«, erklärte Herr Kesselhuth. Dann wurde er rot. Der Portier überhörte die Bemerkung. »Zimmer 31 ist noch frei. Es wird Ihnen bestimmt gefallen. Wollen Sie, bitte, das Anmeldeformular ausfüllen?« Herr Kesselhuth nahm den dargebotenen Tintenstift, stützte sich auf die Theke und notierte voller Sorgfalt seine Personalien. Nun hefteten sich die Blicke aller übrigen endgültig auf den jungen Mann und prüften seinen trübseligen Mantel. Karl der Kühne hüstelte vor Aufregung. »Womit können wir Ihnen dienen?« fragte der Direktor. Der junge Mann zuckte die Achseln, lächelte unentschlossen und sagte: »Tja, mit mir ist das so eine Sache. Ich heiße Hagedorn und habe den ersten Preis der Putzblank-Werke gewonnen. Hoffentlich wissen Sie Bescheid.« Der Direktor verbeugte sich erneut. »Wir wissen Bescheid«, sagte er beziehungsvoll. »Herzlich willkommen unter unserm Dach! Es wird uns eine Ehre sein, Ihnen den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen.« Hagedorn stutzte. Er sah sich um und merkte, daß ihn die abendlich gekleideten Gäste neugierig anstarrten. Auch Herr Kesselhuth hatte den Kopf gehoben. »Welches Zimmer war doch gleich für Herrn Hagedorn vorgesehen?« fragte Kühne. »Ich denke, wir geben ihm das Appartement 7«, sagte der Portier. Der Direktor nickte. Der Hausdiener ergriff Hagedorns Koffer und fragte: »Wo ist das große Gepäck des Herrn?« »Nirgends«, erwiderte der junge Mann. »Was es so alles gibt!« Der Portier und der Direktor lächelten lieblich. »Sie werden sich jetzt gewiß vom Reisestaub reinigen wollen«, sagte Karl der Kühne. »Dürfen wir Sie nachher zum Abendessen erwarten? Es gibt Nudeln mit Rindfleisch.« »Das allein wäre kein Hinderungsgrund«, sagte der junge Mann. »Aber ich bin satt.« Herr Kesselhuth sah wieder vom Anmeldeformular hoch und machte große Augen. Der Hausdiener nahm den Schlüssel und ging mit dem Koffer zum Lift. »Aber wir sehen Sie doch nachher noch?« fragte der Direktor werbend. »Natürlich«, sagte Hagedorn. Dann suchte er eine Ansichtskarte aus, ließ sich eine Briefmarke geben, bezahlte beides, obwohl der Portier anzuschreiben versprach, und wollte gehen. »Ehe ich's vergesse«, sagte Onkel Polter hastig. »Interessieren Sie sich für Briefmarken?« Er holte das Kuvert heraus, in dem er die ausländischen Marken aufbewahrt hatte, und breitete die bunte Pracht vor dem jungen Mann aus. Hagedorn betrachtete das Gesicht des alten Portiers. Dann unterzog er höflich die Briefmarken einer flüchtigen Musterung. Er verstand nicht das geringste davon. »Ich habe keine Kinder«, sagte er. »Aber vielleicht kriegt man welche.« »Darf ich also weitersammeln?« fragte Onkel Polter. Hagedorn steckte die Marken ein. »Tun Sie das«, meinte er. »Es ist ja wohl ungefährlich.« Dann ging er, vom strahlenden Direktor geführt, zum Fahrstuhl. Die Stammgäste, an deren Tischen er vorbeimußte, glotzten ihn an. Er steckte die Hände in die Manteltaschen und zog ein trotziges Gesicht. Herr Johann Kesselhuth legte, völlig geistesabwesend, sein ausgefülltes Anmeldeformular beiseite. »Wieso sammeln Sie für diesen Herrn Briefmarken?« fragte er. »Und warum gibt es seinetwegen Nudeln mit Rindfleisch?« Onkel Polter gab ihm den Schlüssel und meinte: »Es gibt komische Menschen. Dieser junge Mann zum Beispiel ist ein Millionär. Würden Sie das für möglich halten? Es stimmt trotzdem. Er darf nur nicht wissen, daß wir es wissen. Denn er will als armer Mann auftreten. Er hofft, schlechte Erfahrungen zu machen. Das wird ihm aber bei uns nicht gelingen. Haha! Wir wurden telefonisch auf ihn vorbereitet.« »Ein reizender Mensch«, sagte der Direktor, der vom Lift zurückgekehrt war. »Außerordentlich sympathisch. Und er spielt seine Rolle gar nicht ungeschickt. Ich bin gespannt, was er zu den siamesischen Katzen sagen wird!« Herr Kesselhuth klammerte sich an der Theke fest. »Siamesische Katzen?« murmelte er. Der Portier nickte stolz. »Drei Stück. Auch das wurde uns gestern per Telefon angeraten. Genau wie das Briefmarkensammeln.« Herr Kesselhuth starrte bloß zur Hoteltür hinüber. Sollte er ins Freie stürzen und den zweiten armen Mann, der im Anmarsch war, zur Umkehr bewegen? Ein Schwärm Gäste kam angerückt. »Ein bezaubernder Bengel«, rief Frau Casparius, eine muntere Bremerin. Frau von Mallebré warf ihr einen bösen Blick zu. Die Dame aus Bremen erwiderte ihn. »Wie heißt er denn nun eigentlich?« fragte Herr Lenz, ein dicker Kölner Kunsthändler. »Doktor Fritz Hagedorn«, sagte Johann Kesselhuth automatisch. Daraufhin schwiegen sie alle. »Sie kennen ihn?« rief Direktor Kühne begeistert. »Das ist ja großartig! Erzählen Sie mehr von ihm!« »Nein. Ich kenne ihn nicht«, sagte Herr Johann Kesselhuth. Die anderen lachten. Frau Casparius drohte schelmisch mit dem Finger. Johann Kesselhuth wußte nicht aus noch ein. Er ergriff seinen Zimmerschlüssel und wollte fliehen. Man versperrte ihm den Weg. Hundert Fragen schwirrten durch die Luft. Man stellte sich vor und schüttelte ihm die Hand. Er nannte in einem fort seinen Namen. »Lieber Herr Kesselhuth«, sagte schließlich der dicke Herr Lenz. »Es ist gar nicht nett von Ihnen, daß Sie uns so zappeln lassen.« Dann erklang der Gong. Die Gruppe zerstreute sich. Denn man hatte Hunger. Kesselhuth setzte sich gebrochen an einen Tisch in der Halle, hatte Falten der Qual auf der Stirn und wußte keinen Ausweg. Eins stand fest. Fräulein Hilde und die dämliche Kunkel hatten gestern abend telefoniert. Siamesische Katzen in Hagedorns Zimmer! Das konnte reizend werden. Der arme Mann, der Volkslieder pfeifend, seinen Spankorb durch den Schnee schleppte, hatte kalte, nasse Füße. Er blieb stehen und setzte sich ächzend auf den Korb. Drüben auf einem Hügel lag ein großes schwarzes Gebäude mit zahllosen erleuchteten Fenstern. »Das wird das Grandhotel sein«, dachte er. »Ich sollte lieber in einen kleinen verräucherten Gasthof ziehen, statt in diesen idiotischen Steinbaukasten dort oben.« Dann aber fiel ihm ein, daß er ja die Menschen kennenlernen wollte. »So ein Blödsinn!« sagte er ganz laut. »Ich kenne die Brüder doch längst.« Dann bückte er sich und machte einen Schneeball. Er hielt ihn lange in beiden Händen. Sollte er ihn nach einer Laterne werfen? Wie vor einigen Tagen die beiden Knirpse in der Lietzenburger Straße? Oder wie er selber, vor vierzig Jahren? Herr Schulze fror an den Fingern. Er ließ den kleinen weißen Schneeball unbenutzt fallen. »Ich träfe ja doch nicht mehr«, dachte er melancholisch. Verspätete Skifahrer kamen vorüber. Sie strebten hügelwärts. Zum Grandhotel. Er hörte sie lachen und stand auf. Die rindsledernen Stiefel drückten. Der Spankorb war schwer. Der violette Anzug aus der Fruchtstraße kniff unter den Armen. »Ich könnte mir selber eine runterhauen«, sagte er gereizt und marschierte weiter. Als er in das Hotel trat, standen die Skifahrer bei dem Portier, kauften Zeitungen und betrachteten ihn befremdet. Aus einem Stuhl erhob sich ein elegant gekleideter Herr. Ach nein. Das war ja Johann! Kesselhuth näherte sich bedrückt. Flehend sah er zu dem armen Mann hin. Aber die Blicke prallten ab. Herr Schulze setzte den Spankorb nieder, drehte dem Hotel den Rücken und studierte ein Plakat, auf dem zu lesen war, daß am übernächsten Abend in sämtlichen Räumen des Grandhotels ein »Lumpenball« stattfinden werde. »Da brauch ich mich wenigstens nicht erst umzuziehen«, dachte er voller Genugtuung. Die Skifahrer verschwanden polternd und stolpernd im Fahrstuhl. Der Portier musterte die ihm dargebotene Kehrseite des armen Mannes und sagte: »Hausieren verboten!« Dann wandte er sich an Kesselhuth und fragte nach dessen Wünschen. Kesselhuth sagte: »Ich muß ab morgen skifahren. Ich weiß nicht, wie man das macht. Glauben Sie, daß ich's noch lernen werde?« »Aber natürlich!« meinte Onkel Polter. »Das haben hier noch ganz andere gelernt. Sie nehmen am besten beim Graswander Toni Privatstunden. Da kann er sich Ihnen mehr widmen. Außerdem ist es angenehmer, als wenn Ihnen, im großen Kursus, bei dem ewigen Hinschlagen dauernd dreißig Leute zuschauen.« Johann Kesselhuth wurde nachdenklich. »Wer schlägt hin?« fragte er zögernd. »Sie!« stellte der Portier fest. »Der Länge nach.« Der Gast kniff die Augen klein. »Ist das sehr gefährlich?« »Kaum«, meinte der Portier. »Außerdem haben wir ganz hervorragende Ärzte in Bruckbeuren! Der Sanitätsrat Doktor Zwiesel zum Beispiel ist wegen seiner Heilungen komplizierter Knochenbrüche geradezu weltberühmt. Die Beine, die in seiner Klinik waren, schauen hinterher viel schöner aus als vorher!« »Ich bin nicht eitel«, sagte der Gast. Hierüber mußte der arme Mann, der inzwischen sämtliche Anschläge studiert hatte, laut lachen. Dem Portier, der den Kerl vergessen hatte, trat nunmehr, Schritt für Schritt, die Galle ins Blut. »Wir kaufen nichts!« »Sie sollen gar nichts kaufen«, bemerkte der arme Mann, »Was wollen Sie denn dann hier?« Der aufdringliche Mensch trat näher und sagte sonnig: »Wohnen!« Der Portier lächelte mitleidig: »Das dürfte Ihnen um ein paar Mark zu teuer sein. Gehen Sie ins Dorf zurück, guter Mann! Dort gibt es einfache Gasthäuser mit billigen Touristenlagern.« »Vielen Dank«, entgegnete der andere. »Ich bin kein Tourist. Sehe ich so aus? Übrigens ist das Zimmer, das ich bei Ihnen bewohnen werde, noch viel billiger.« Der Portier blickte Herrn Kesselhuth an, schüttelte, dessen Einverständnis voraussetzend, den Kopf und sagte, gewissermaßen abschließend: »Guten Abend!« »Na endlich!« meinte der arme Mann. »Es wurde langsam Zeit, mich zu begrüßen. Ich hätte in diesem Hotel bessere Manieren erwartet.« Onkel Polter wurde dunkelrot und zischte: »Hinaus! Aber sofort! Sonst lasse ich Sie expedieren!« »Jetzt wird mir's zu bunt!« erklärte der arme Mann entschieden. »Ich heiße Schulze und bin der zweite Gewinner des Preisausschreibens. Ich soll zehn Tage im Grandhotel Bruckbeuren kostenlos verpflegt und beherbergt werden. Hier sind die Ausweispapiere!« Onkel Polter begann, ohne es selber zu merken, leichte Verbeugungen zu machen. Er verstand die Welt nicht mehr. Anschließend kam er hinter seiner Ladentafel hervor, stieg von seinem Podest herab, wurde auffallend klein, murmelte: »Einen Augenblick, bitte!« und trabte zum Büro, um den Direktor zu holen. »Einfach tierisch!« würde Kühne sagen. Schulze und Kesselhuth waren, vorübergehend, allein. »Herr Geheimrat«, meinte Johann verzweifelt, »wollen wir nicht lieber wieder abreisen?« Schulze war offenbar taub. »Es ist etwas Schreckliches geschehen«, flüsterte Johann. »Stellen Sie sich vor: als ich vorhin ankam ...« »Noch ein Wort«, sagte der Geheimrat, »und ich erschlage Sie mit der bloßen Hand!« Es klang absolut überzeugend. »Auf die Gefahr hin ...« begann Johann. Doch da öffnete sich die Fahrstuhltür, und Herr Hagedorn trat heraus. Er steuerte auf die Portierloge zu und hielt eine Postkarte in der Hand. »Fort mit Ihnen!« flüsterte Schulze. Herr Kesselhuth gehorchte und setzte sich, um in der Nähe zu bleiben, an einen der Tische, die in der Halle standen. Er sah schwarz. Gleich würden der Millionär, den man hier für einen armen Mann hielt, und der arme Mann, den man hier für einen Millionär hielt, aufeinandertreffen! Die Mißverständnisse zogen sich über dem Hotel wie ein Gewitter zusammen! Der junge Mann bemerkte Herrn Schulze und machte eine zuvorkommende Verbeugung. Der andere erwiderte den stummen Gruß. Hagedorn sah sich suchend um. »Entschuldigen Sie«, sagte er dann. »Ich bin eben erst angekommen. Wissen Sie vielleicht, wo der Hotelbriefkasten ist?« »Auch ich bin eben angekommen«, erwiderte der arme Mann. »Und der Briefkasten befindet sich hinter der zweiten Glastür links.« »Tatsächlich!« rief Hagedorn, ging hinaus, warf die Karte an seine Mutter ein, kam zufrieden zurück und blieb neben dem andern stehen. »Sie haben noch kein Zimmer?« »Nein«, entgegnete der andere. »Man scheint im unklaren, ob man es überhaupt wagen kann, mir unter diesem bescheidenen Dach eine Unterkunft anzubieten.« Hagedorn lächelte. »Hier ist alles möglich. Wir sind, glaube ich, in ein ausgesprochen komisches Hotel geraten.« »Falls Sie den Begriff Komik sehr weit fassen, haben Sie recht.« Der junge Mann betrachtete sein Gegenüber lange. Dann sagte er: »Seien Sie mir nicht allzu böse, mein Herr! Aber ich möchte für mein Leben gern raten, wie Sie heißen.« Der andere trat einen großen Schritt zurück. »Wenn ich beim erstenmal daneben rate, geb ich's auf«, erklärte der junge Mann. »Ich habe aber eine so ulkige Vermutung.« Und weil der Ältere nicht antwortete, redete er weiter. »Sie heißen Schulze! Stimmt's?« Der andere war ehrlich betroffen. »Es stimmt«, sagte er. »Ich heiße Schulze. Aber woher wissen Sie das? Wie?« »Ich weiß noch mehr«, behauptete der junge Mann. »Sie haben den zweiten Preis der Putzblank-Werke gewonnen. Sehen Sie! Ich gehöre nämlich zu den Kleinen Propheten! Und jetzt müssen Sie raten, wie ich heiße.« Schulze dachte nach. Dann erhellte sich sein Gesicht. Er strahlte förmlich und rief: »Ich hab's! Sie heißen Hagedorn!« »Jawoll ja«, sagte der Jüngere. »Von uns kann man lernen.« Sie lachten und schüttelten einander die Hand. Schulze setzte sich auf seinen Spankorb und bot auch Hagedorn ein Plätzchen an. So saßen sie, im trauten Verein, und gerieten umgehend in ein profundes Gespräch über Reklame. Und zwar über die Wirkungsgrenze origineller Formulierungen. Es war, als kennten sie einander bereits seit Jahren. Herr Johann Kesselhuth, der sich eine Zeitung vors Gesicht hielt, um an dem Blatt vorbeischauen zu können, staunte. Dann fing er an, einen Plan zu schmieden. Und schließlich begab er sich mit dem Lift ins zweite Stockwerk, um zunächst sein Zimmer, mit Bad und Balkon, kennenzulernen und die Koffer auszupacken. Damit die neuen Anzüge nicht knitterten. Als Kühne und Polter, nach eingehender Beratung, die Halle durchquerten, saßen die beiden Preisträger noch immer auf dem durchnäßten, altersschwachen Spankorb und unterhielten sich voller Feuer. Der Portier erstarrte zur Salzsäule und hielt den Direktor am Smoking fest. »Da!« stieß er hervor. »Sehen Sie sich das an! Unser verkappter Millionär mit Herrn Schulze als Denkmal! Als Goethe und Schiller!« »Einfach tierisch!« behauptete Karl der Kühne. »Das hat uns noch gefehlt! Ich transportiere den Schulze in die leerstehende Mädchenkammer. Und Sie deuten dem kleinen Millionär an, wie peinlich es uns ist, daß er, ausgerechnet in unserem Hotel, einen richtiggehend armen Mann kennenlernen mußte. Daß wir den Schulze nicht einfach hinausschmeißen können, wird er einsehen. Immerhin, vielleicht geht der Bursche morgen oder übermorgen freiwillig. Hoffentlich! Er vergrault uns sonst die andern Stammgäste!« »Der Herr Doktor Hagedorn ist noch ein Kind«, sagte der Portier nicht ohne Strenge. »Das Fräulein, das aus Berlin anrief, hat recht gehabt. Bringen Sie schnell den Schulze außer Sehweite! Bevor die Gäste aus den Speisesälen kommen.« Sie gingen weiter. »Willkommen!« sagte Direktor Kühne zu Herrn Schulze. »Darf ich Ihnen Ihr Zimmer zeigen?« Die beiden Preisträger erhoben sich. Schulze ergriff den Spankorb. Hagedorn sah Schulze freundlich an. »Lieber Herr Schulze, ich sehe Sie doch noch ?« Der Direktor griff ein. »Herr Schulze wird von der langen Reise müde sein«, behauptete er. »Da irren Sie sich aber ganz gewaltig«, meinte Schulze. Und zu Hagedorn sagte er: »Lieber Hagedorn, wir sehen uns noch.« Dann folgte er dem Direktor zum Lift. Der Portier legte sehr viel väterliche Güte in seinen Blick und sagte zu dem jungen Mann: »Entschuldigen Sie, Herr Doktor! Es tut uns leid, daß ausgerechnet dieser Gast der erste war, den Sie kennenlernten.« Hagedorn verstand nicht ganz. »Mir tut es gar nicht leid!« »Herr Schulze paßt, wenn ich so sagen darf, nicht in diese Umgebung.« »Ich auch nicht«, erklärte der junge Mann. Onkel Polter schmunzelte: »Ich weiß, ich weiß.« »Noch etwas«, sagte Hagedorn. »Gibt es hier in allen Zimmern Tiere?« Er legte seine Hände auf die Theke. Sie waren zerkratzt und rotfleckig. »Tiere?« Der Portier starrte versteinert auf die beiden Handrücken. »In unserm Hotel gibt es Tiere?« »Sie haben mich offenbar mißverstanden«, erwiderte Hagedorn. »Ich rede von den Katzen.« Onkel Polter atmete auf. »Haben wir Ihren Geschmack getroffen?« »Doch, doch. Die kleinen Biester sind sehr niedlich. Sie kratzen zwar. Aber es scheint ihnen Spaß zu machen. Und das ist die Hauptsache. Ich meine nur: Haben auch die anderen Gäste je drei Katzen im Zimmer?« »Das ist ganz verschieden«, meinte der Portier und suchte nach einem anderen Thema. Er fand eines. »Morgen früh kommt der Masseur auf Ihr Zimmer.« »Was will er denn dort?« fragte der junge Mann. »Massieren.« »Wen?« »Sie, Herr Doktor.« »Sehr aufmerksam von dem Mann«, sagte Hagedorn. »Aber ich habe kein Geld. Grüßen Sie ihn schön.« Der Portier schien gekränkt. »Herr Doktor!« »Massiert werde ich auch gratis?« fragte Hagedorn. »Also gut. Wenn es durchaus sein muß! Was verspricht man sich davon?« Der kleine Millionär verstellte sich vorbildlich. »Massage hält die Muskulatur frisch«, erläuterte Polter. »Außerdem wird die Durchblutung der Haut enorm gefördert.« »Bitte«, sagte der junge Mann. »Wenn es keine schlimmen Folgen hat, so soll es mir recht sein. Haben Sie wieder Briefmarken?« »Noch nicht«, sagte der Portier bedauernd. »Aber morgen bestimmt.« »Ich verlasse mich darauf«, entgegnete Hagedorn ernst und ging in die Halle, um in Ruhe lächeln zu können. Im vierten Stock stiegen Schulze und Karl der Kühne aus. Denn die Liftanlage reichte nur bis hierher. Sie kletterten zu Fuß ins fünfte Stockwerk und wanderten dann einen langen, schmalen Korridor entlang. An dessen äußerstem Ende sperrte der Direktor eine Tür auf, drehte das Licht an und sagte: »Das Hotel ist nämlich vollständig besetzt.« »Drum«, meinte Schulze und blickte, fürs erste fassungslos, in das aus Bett, Tisch, Stuhl, Waschtisch und schiefen Wänden bestehende Kämmerchen. »Kleinere Zimmer haben Sie nicht?« »Leider nein«, sagte der Direktor. Schulze setzte den Spankorb nieder. »Schön kalt — ist es hier!« »Die Zentralheizung geht nur bis zum vierten Stock. Und für einen Ofen ist kein Platz.« »Das glaube ich gern«, sagte der arme Mann. »Glücklicherweise hat mir der Arzt streng verboten, in geheizten Räumen zu schlafen. Ich danke Ihnen für Ihre ahnungsvolle Rücksichtnahme.« »Oh, bitte sehr«, erwiderte Kühne und biß sich auf die Unterlippe. »Man tut, was man kann.« »Die übrige Zeit werde ich mich nun freilich völlig in den Gesellschaftsräumen aufhalten müssen«, meinte Herr Schulze. »Denn zum Erfrieren bin ich natürlich nicht hergekommen.« Karl der Kühne sagte: »Sobald ein heizbares Zimmer frei wird, quartieren wir Sie um!« »Es hat keine Eile«, meinte der arme Mann versöhnlich. »Ich liebe schiefe Wände über alles. Die Macht der Gewohnheit, verstehen Sie?« »Ich verstehe vollkommen«, antwortete der Direktor. »Ich bin glücklich, Ihren Geschmack getroffen zu haben.« »Wahrhaftig«, sagte Schulze. »Das ist Ihnen gelungen. Auf Wiedersehen!« Er öffnete die Tür. Während der Direktor über die Schwelle schritt, überlegte sich Schulze, ob er ihm mit einem wohlgezielten Tritt nachhelfen sollte. Er beherrschte sich aber, schloß die Tür, öffnete das Dachfenster und sah zum Himmel hinauf. Große Schneeflocken sanken in die kleine Kammer und setzten sich behutsam auf die Bettkante. »Der Tritt wäre verfrüht«, sagte Geheimrat Tobler. »Der Tritt kommt in die Sparbüchse.«
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